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„TAKEN FROM A BULL WALRUS“

Objektgeschichten zum arktischen Walfang im 18. und 19. Jahrhundert



Text: Mareike Wöhler
Illustrationen: Tony Millionaire
Entwicklung: Michael Kaltenberger

„Fall! Fall! Öwerall!“ So gellten die Schreie der nordfriesischen Seeleute durch die Polarluft, wenn der Blas – die „Fontäne“ eines Wals – in den Gewässern des Arktischen Ozeans vor Grönland oder Spitzbergen gesichtet wurde. Schnell warfen die sehr gläubigen Seeleute die Beiboote ins Wasser und unterbrachen selbst Bordandachten abrupt. Auch anziehen konnten sie sich oft nicht mehr vollständig, wenn sie den Ruf während der Nachtruhe hörten. Jeder sprang so schnell er konnte in die Boote. Denn ein Wal bedeutete Geld und volle Mägen für ihre großen Familien, die die Seeleute ernähren mussten. In Zeiten vor der Erfindung von Impfungen und Antibiotika erreichten viele Kinder nicht einmal das Erwachsenenalter.

Großwale waren im 18. und 19. Jahrhundert in der Lage, sowohl Walfangboote als auch ganze Walfangschiffe zum Kentern zu bringen. Daher war der Walfang für den Menschen nicht ungefährlich. Viele Seeleute kehrten nicht nach Hause zurück. Da sich bei einer großen Anzahl an erlegten Walen und einer entsprechend großen Menge an Tran rasch viel Geld verdienen ließ, gingen sie das Risiko ein. Die Leidtragenden waren ihre Frauen und Kinder, die beim Tod des Mannes den sozialen Abstieg und große Armut zu befürchten hatten. Auch viele Söhne fuhren auf Walfang und blieben auf See, was ebenfalls für Kummer sorgte. Die Seeleute und ihre Familien waren der Zeit entsprechend sehr religiös. Die Möglichkeit, zu erkranken oder zu sterben, war ihnen stets bewusst. Ihr Glaube gab ihnen Halt und Zuversicht, da Christen an ein Leben nach dem Tod glauben. Kamen sie von einer Seereise gesund zurück und hatten – je nach Rang in der Schiffshierarchie mehr oder weniger – viel verdient, stifteten die Seeleute für die Kirchen zum Beispiel gerne Schiffsmodelle oder Leuchter. Diese hängen in den Niederlanden, Nordfriesland und Süddänemark und vielen anderen Orten mit Seefahrer- und Walfangtradition noch heute in den Kirchen oder werden in regionalen Museen gezeigt.

Das Gleichgewicht zwischen den natürlichen Vorkommen und den durch technische Einrichtungen gesteigerten Fangergebnissen war auf allen Gebieten der Fischerei gefährdet, so auch beim Walfang. Über Jahrhunderte war der Wal eine wichtige Rohstoffquelle gewesen. In der Zeit des Walfangs unter Segeln bis etwa 1900 wurde aus der Speckschicht des Wales das Walöl gekocht. Es fand für Beleuchtung, Arznei- und Lebensmittel Verwendung. Die Jagd mit der Harpune von offenen Booten aus war ein waghalsiges und nicht ungefährliches Handwerk. Um 1860 entwickelte ein Bremerhavener Büchsenmacher, ausgehend von den Leinenkanonen zur Rettung Schiffbrüchiger, eine erste Granatharpune.

(Broelmann 2006, S. 148f.)

Doch wie stellte sich das Ganze aus der Sicht des Wals dar? War er nur Beute oder hatte jemand mit ihm Mitleid? Solche Fragen stellten sich die Menschen der damaligen Zeit selten, wenn überhaupt. Für die meisten war der Wal nur ein riesiger Fisch – die alte Bezeichnung „Walfisch“ zeugt noch von dieser Auffassung –, von dem man annahm, dass er unbegrenzt nachwächst. Walrosse und Robben wurden zur Ergänzung des Speiseplans der Walfänger und wegen ihres Fetts als Beifang oder gesondert von Robbenfängern gejagt.

Hier wird versucht, die Perspektive auch einmal umzudrehen und kritische Stimmen aus der damaligen Zeit anzuhören. Dazu mehr in den Kapiteln „Transformation“ und „Perspektive“. Die sieben Kapitel können nacheinander, einzeln oder in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Jedes Kapitel steht für sich. Zu erreichen sind die Kapitel über die Symbole unten auf dieser Seite. Einfach anklicken!

Wale (Cetacea) werden von Zoologen heute in zwei Unterordnungen eingeteilt: Bartenwale (Mysticeti) und Zahnwale (Odontoceti). Erstere haben im Oberkiefer dreiseitige Hornplatten (Barten), letztere Zähne. Der Grönlandwal (Balaena mysticetus) und der Blauwal (Balaenoptera musculus) gehören zu den Bartenwalen, während der Pottwal (Physeter macrocephalus) und die artenreiche Familie der Delfine (Delphinidae) den Zahnwalen zugerechnet werden.

Wie konnte eine solche Jagd denn aussehen? Werfen wir zunächst einen genaueren Blick auf die Objekte, auf denen selbst Bildgeschichten zu sehen sind und die daher im Mittelpunkt dieser Digital Story stehen:

Before After

Aber das auf den Fotos ist doch ein Walross- und kein Walzahn? Stimmt. Warum ist das so? Es ist doch die Flosse eines Wals darauf abgebildet?

Das hat mich zunächst auch etwas verwundert. Die hier gezeigten Scrimshaws – das sind Ritzungen oder Gravuren in tierischen Materialien – wurden auf dentalem Material von Zahnwalen oder Walrössern aufgebracht,1 da Bartenwale nur als Embryos Zähne besitzen. Es gibt auch Barten, in die maritime Szenen eingeritzt wurden. Sie sind auf dem dunkleren Hornmaterial jedoch nicht so gut zu erkennen wie auf dem helleren dentalen Material, das farblich Papier ähnelt.

Auf diesem Stoßzahn (Hauer) eines erlegten Walrossbullens wurden das Material, das Herstellungsjahr und der Herstellungsort (vermutlich auf See) eingraviert: „TAKEN FROM A BULL / WALRUS 1861 / SHIP NORTHERN / LIGHT“.

Wahrscheinlich hat diese Scrimshaw-Arbeit ein Crewmitglied des Segelschiffs „Northern Light“ angefertigt. Die Laien oder Kunsthandwerker, die solche Arbeiten besorgten, nennt man Skrimshander (engl. scrimshander). Der Walrossbulle, dessen Zahn verwendet wurde, wurde möglicherweise während einer Reise getötet und der Stoßzahn dem Schnitzer für seine Arbeit zur Verfügung gestellt. Vielleicht wurde auch der zweite Stoßzahn mit einer Scrimshaw-Arbeit verziert.

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Überall im Pazifik und auch in Nantucket und New Bedford und Sag Harbor stößt man auf lebensechte Skizzen von Walen und Walfangszenen, von den Fischern selbst in Pottwalzähne geritzt oder in Miederstäbe, die aus dem Glattwalbein gefertigt, und andere solche Skrimshandersachen, wie die Waljäger die zahllosen kleinen sinnreichen Erfindungen nennen, welche sie mit Mühe und Geschick in den Stunden ihrer ozeanischen Freizeit aus dem Rohstoff schnitzen. Manche von ihnen haben kleine Kästchen mit zahnarztartigen Gerätschaften, welche eigens für das Skrimshanderhandwerk gedacht sind, doch im allgemeinen mühen sie sich allein mit ihren Bordmessern ab; und mit jenem beinah allmächtigen Werkzeug des Seemanns werden sie euch alles herstellen, was ihr mögt, wie es der Vorstellung eines Matrosen entspricht.

(Melville 2016, Kap 57: Von Walen aus Farbe; aus Zahn; aus Holz; aus Eisenblech; aus Stein; aus Bergen; aus Sternen)

Throughout the Pacific, and also in Nantucket, and New Bedford, and Sag Harbour, you will come across lively sketches of whales and whaling scenes, graven by the fishermen themselves on sperm whale teeth, or ladies‘ busks wrought out of the right whale bone, and other like skrimshander articles, as the whalemen call the numerous little ingenious contrivances they elaborately carve out of the rough material, in their hours of ocean leisure. Some of them have little boxes of dentistical-looking implements, specially intended for the skrimshandering business. But, in general, they toil with their jackknifes alone; and, with that almost omnipotent tool of the sailor, they will turn you out anything you please, in the way of a mariner’s fancy.

(Melville 2014, Chap. 57: Of Whales in Paint; in Teeth; in Wood; in Sheet-Iron; in Stone; in Mountains; in Stars)

Die Walfangszene auf dem Walrosszahn des Deutschen Museums erinnert nicht nur wegen der Herstellungstechnik, sondern auch wegen der Art der Darstellung an Herman Melvilles 1851 – also zehn Jahre zuvor und zugleich vor 170 Jahren – erschienenen Roman Moby-Dick; or, The Whale (dt. Moby Dick oder: Der Wal). In diesem berichtet Ishmael, der einzige Überlebende des Walfangschiffs „Pequod“, von seinen Erlebnissen mit Kapitän Ahab und der restlichen Mannschaft. Ahab verfolgt den weißen Pottwal Moby Dick wie irrsinnig durch die Weltmeere, nachdem dieser ihm Jahre zuvor während eines missglückten Tötungsversuchs ein Bein abgerissen hat.

Zeitlich wäre es durchaus möglich, dass der Skrimshander, der die Walfangszene 1861 in den Walrosszahn geritzt hat, den Roman Moby Dick kannte. Von dessen Illustrationen kann er jedoch nicht beeinflusst worden sein, da erst die Ausgabe von 1892 illustriert wurde.5 Im 18. und 19. Jahrhundert gab es allerdings viele Zeichnungen auf Papier, Ritzungen in Tierzähne und gedruckte Stiche, auf denen dramatische Walfangszenen dargestellt wurden.

Der Historiker und Kulturwissenschaftler Felix Lüttge demonstriert in seiner 2020 erschienenen Medien- und Wissensgeschichte des Wals, wie „am Ende des 18. Jahrhunderts […] der ‚intelligent whaler‘ zu einer historiographischen Figur amerikanischen Entdeckergeistes“ wurde, „auf die sich Wissenschaftler, Politiker und Literaten gleichermaßen beriefen und der bis heute in der amerikanischen Walfangs- und Seefahrtshistoriographie eine wichtige Rolle zukommt.“6 Ähnliches lässt sich über die Übernahme der Figur an anderen Orten des Walfangs sagen. Bis heute wirkt die Figur des intelligenten Walfängers weltweit an vielen Orten nach. Nicht zuletzt hängt sie mit den Schiffen, Werkzeugen, Instrumenten, Karten und Aufzeichnungen zusammen, die ihn auf seiner Fahrt begleiteten. Einige von ihnen werden in den folgenden Kapiteln vorgestellt.

Literatur zur Einführung

Jobst Broelmann: Panorama der Seefahrt. Bremen 2006.

Cornelis de Jong: Scrimshaw auf dem Unterkiefer eines Pottwals in Bloemfontein, Südafrika. In: Deutsches Schiffahrtsarchiv 14 (1991), S. 257–262.

Winfried Dolderer: Moby Dick. Die letzte Fahrt der Essex. In: Spektrum der Wissenschaft Kompakt 46 (2020), S. 4–11.

Jan I. Faltings: Föhrer Grönlandfahrt im 18. und 19. Jahrhundert und ihre ökonomische, soziale und kulturelle Bedeutung für die Entwicklung einer spezifisch inselfriesischen Seefahrergesellschaft. Husum 2011 (Schriftenreihe des Dr.-Carl-Häberlin-Friesen-Museums, N.F., Heft 25).

Matthew Kerr: Depicting Moby Dick – the artists who set out to capture Melville’s white. In: Apollo Magazine (Online), https://www.apollo-magazine.com/herman-melville-moby-dick-artists-illustrators/ (VÖ: 21.08.2019).

Richard L. King: Ahab’s Rolling Sea. A Natural History of Moby-Dick. Chicago und London 2019.

Helen La Grange: Clipper Ships of American and Great Britain, 1833-1869. New York 1936.

Kate Lohnes, Vybarr Cregan-Reid: Moby Dick. In: Encyclopædia Britannica (Online), https://www.britannica.com/topic/Moby-Dick-novel (revidierte Fassung: 16.07.2018, Abruf: 02.02.2021).

Felix Lüttge: Auf den Spuren des Wals. Geographien des Lebens im 19. Jahrhundert. Göttingen 2020.

Herman Melville: Moby-Dick or The Whale. San Diego 2014.

Herman Melville: Moby-Dick oder: Der Wal. Übersetzt von Friedhelm Rathjen. 2. Aufl. Salzburg und Wien 2016.

Amy Tikkanen: Essex. In: Encyclopædia Britannica (Online), https://www.britannica.com/topic/Essex-whaling-ship (VÖ: 31.03.2017, Abruf: 02.02.2021).

1 de Jong 1991, S. 257, geht auf weitere Materialien ein.

2 Zum Schiff ausführlich La Grange 1936, S. 145–152.

3 Tikkanen 2017.

4 Tikkanen 2017. Lohnes/Cregan-Reid 2018. Mehr zur Reise bei Dolderer 2020. Weitere Einflüsse auf den Roman beschreibt King 2019, S. 60f.

5 Mehr hierzu bei Kerr 2019 (dort mit der Angabe 1896). Der erste Illustrator war Augustus Burnham Shute (1851–1906).

6 Lüttge 2020, S. 19. Mehr über diese historiografische Figur ebd., S. 31–78.