Notenrollensammlung

Notenrollen & Instrumente

Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte die Aeolian Company, New York, das erste serienreife selbstspielende Klavier, das von Notenrollen gesteuert wurde: das Pianola. 1897 wurde es in den USA, ab 1902 in Deutschland angeboten. Rasch folgten weitere Hersteller mit eigenen Entwicklungen, so im selben Jahr die Ludwig Hupfeld AG, Leipzig, mit dem Phonola und 1904 die Firma M. Welte & Söhne, Freiburg, mit dem Reproduktionssystem Welte Mignon. Damit trat eine neue, singuläre Form der Aufnahme, Speicherung und Wiedergabe von Musik neben die bekannten Phonographenwalzen und Grammophonplatten. Das individuelle Spiel von Pianisten konnte aufgenommen und unabhängig von der Anwesenheit eines Musikers auf einem Musikinstrument wiedergegeben werden.

Selbstspielende Klaviere waren in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weit verbreitet und stellten im Musik- wie Wirtschaftsleben einen wichtigen Faktor dar. Weltweit wurden in den frühen 1920er-Jahren rund 200.000 selbstspielende Klaviere pro Jahr gefertigt, in den USA machten sie gar 53% der Klavierproduktion aus. Die Instrumente gehörten vielfach zur standesgemäßen Ausstattung bürgerlicher Wohnzimmer und waren Zentrum des häuslichen Musizierens. Zudem spielten sie in Cafés, Restaurants, Hotels und an anderen öffentlichen Plätzen. Führend in Entwicklung, Produktion und Angebot von Instrumenten und Notenrollen waren Firmen in Deutschland und den USA, die weltweit Vertretungen unterhielten.

Funktionsweise
Pneumatisches Abtasten

Die Steuerung selbstspielender Instrumente erfolgt über sogenannte Notenrollen, meterlange Bänder aus speziellem Papier, die auf einer Spule aufgerollt sind. Die Breite variiert zwischen 10 und 50 cm, die Länge kann bis zu 50 m betragen. Die Informationen dieser Programmträger sind primär durch Lochungen kodiert, die Tonhöhen und -dauern, je nach Rollentyp auch weitere Parameter wie Akzentuierungen, dynamische Abläufe und Pedalverwendung steuern. Die Rollen laufen in den Abspielinstrumenten über einen Skalenblock und werden pneumatisch abgetastet. Wird eine Lochung erkannt, schließt sich ein kleiner Balg und löst den Tastendruck oder einen anderen Mechanismus aus.

Vorteile der Notenrollen gegenüber Walzen und Platten waren die deutlich längere Spielzeit (bis zu 15 Minuten gegenüber zwei Minuten auf Phonographenwalzen bzw. -zylindern und viereinhalb Minuten auf einer Seite einer Grammophonplatte), die relativ einfache Vervielfältigung, die längere Haltbarkeit und die Unabhängigkeit von den anderen, noch unzureichenden Aufnahmeverfahren. Dem stand als Nachteil die Bindung an ein Abspielinstrument gegenüber, dessen Einstellung zudem die Qualität der Wiedergabe bestimmt.

Links: Max Reger und Carl Reinecke im Aufnahmesalon der Firma Hupfeld. Rechts: Phonola. Schnittzeichnung und technische Beschreibung.

Instrumententypen
Kunstspiel- und Reproduktionsklaviere

Nebeneinander existierten verschiedene Typen selbstspielender Klaviere. Grundlegend zu unterscheiden sind „Kunstspiel-“ und „Reproduktionsklaviere“, denen verschiedene Ideen zugrunde liegen.

„Kunstspielklaviere“ werden mehrheitlich mittels Pedalen angetrieben. Sie erlauben den Spieler/-innen, in die Wiedergabe der auf den Notenrollen gespeicherten Stücke einzugreifen, ja sie fordern gar die aktive menschliche Handlung. Über Handhebel, zum Teil auch über Pedale, steuern die Spielenden die dynamische Gestaltung, das Tempo, die Balance zwischen Diskant und Bass und die Dämpfungsaufhebung; das Musikstück wird durch das Spiel "interpretiert". Interpretatorische Parameter konnten aber je nach Rollensystem und Instrument auch vom Gerät selbst umgesetzt werden, so dass die manuelle Steuerung dann nicht oder nur noch in Teilen erforderlich war. Das Spiel der Kunstspielklaviere wie Pianola und Phonola war eine Kunst, die in Publikationen vermittelt und auch beruflich ausgeübt wurde.

„Reproduktionsklaviere“ geben dagegen das Spiel eines Pianisten wieder, ohne dass ein manueller Eingriff erforderlich oder möglich ist. Auch Nuancen der Ausführung wie Anschlagsdynamik, Sforzando, Crescendo, Diminuendo und Pedalverwendung werden erstaunlich differenziert reproduziert. Das früheste und wichtigste System war das Welte Mignon, dem bald Systeme anderer Hersteller folgten (Dea und Tri-Phonola von Hupfeld, Duca von Philips, Duo-Art der Aeolian und Ampico der American Piano Company).

Heute werden – wohl auch aufgrund des weitgehenden Fehlens guter Spieler von Kunstspielklavieren – Reproduktionsklaviere von der Forschung und interessierten Öffentlichkeit wesentlich höher geschätzt als Kunstspielklaviere und vielfach als Höhepunkt der Entwicklung selbstspielender Musikinstrumente betrachtet.

Oben: Bedienhebel für einen Phonola-Vorsetzer. Unten links: Perforierungen einer Notenrolle. Unten rechts: Skalenblock.

Systeme
Vielfalt und Standardisierung

Für die verschiedenen Klaviertypen wurde ein entsprechend breites Spektrum von Notenrollen angeboten. Die Hersteller produzierten diese zunächst in jeweils eigenen Formaten, die sich in Papierbreite, Anzahl spielbarer Töne und in den gespeicherten zusätzlichen Parametern unterschieden und auf Instrumenten anderer Anbieter nicht abzuspielen waren. Auf Dauer war dies eine unbefriedigende Situation. Es fanden daher Treffen statt, um das Format zu normieren, so 1908 in Buffalo und 1911 in Chicago. Erst mit den dort verabschiedeten Konventionen einigte man sich auf ein weltweit einheitliches Format für Rollen, die nun auf Instrumenten verschiedener Fabrikate wiedergegeben werden konnten. Damit setzte eine gewisse Standardisierung ein, doch folgten manche Hersteller den Vorgaben nicht oder nur mit erheblicher Zeitverzögerung. Die Lochungen zur Steuerung der Dynamik behielten, vor allem bei den Reproduktionsklavieren, unterschiedliche Formate.

Aber nicht nur die technischen Parameter unterschieden sich, sondern auch die Grundlage der Stanzungen. Notenrollen für Reproduktionsklaviere basierten immer auf dem Spiel von Pianisten und Pianistinnen und speicherten dieses mit Feinheiten der Ausführung. Für Kunstspielklaviere wurden dagegen zunächst sogenannte arrangierte Rollen angeboten, bei denen Partituren von Spezialisten direkt in die Stanzungen übersetzt wurden. Ab 1905 brachte die Firma Hupfeld daneben sogenannte „Künstlerrollen“ auf den Markt, die auf Interpretationen beruhten: Tonhöhen und -dauern sowie Tempo und Agogik wurden durch Lochungen wiedergegeben, weitere Parameter des Spiels durch farbige Linien und Markierungen auf den Rollen, denen mittels Hebeln gefolgt werden sollte. Die Aeolian Company bot für das Pianola Rollen ähnlichen Typs an (Metrostyle). Ab 1907/08 wurde bei Rollen für Kunstspielklaviere zudem die Akzentuierung von Melodietönen durch eigene Lochungen kodiert und konnte so automatisch wiedergegeben werden (Solodant von Hupfeld, Themodist der Aeolian Company).

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Links: Notenrollenschrank mit Rollen verschiedener Systeme.

Repertoire
Von Opern und Symphonien bis zu Tanzmusik

Das musikalische Repertoire war gewaltig und umfasste zehntausende verschiedene Titel. 1914 hatte allein die Aeolian Company bereits 50.000 Titel im Angebot. In Europa wurden zwischen 1905 und 1935 ca. 35.000 verschiedene Notenrollen für Reproduktions- und Kunstspielklaviere produziert. Das Repertoire reichte von Originalwerken für Klavier über Bearbeitungen beliebter Opern, Operetten und Sinfonien bis zu Schlagern, Tanz- und Unterhaltungsmusik. Die Rollen spiegeln den Geschmack der Zeit, wirkten gleichzeitig aber auch auf diesen zurück. Besonders beliebt waren Werke von Frédéric Chopin (es sind 1.300 unterschiedliche Einspielungen bekannt, darunter 26 verschiedene der Ballade Nr. 3 As-Dur op. 47) sowie von Franz Liszt (700 Einspielungen, davon 24 des Nocturne Nr. 3 As-Dur, „Liebestraum“), aber auch heute weitgehend vergessene Schlager.

Die zum Teil in hohen Stückzahlen produzierten Rollen erreichten – beworben durch Kataloge und zum Teil aufwändig gestaltete Werbeschriften – eine weite Verbreitung, ob sie nun erworben oder über Bibliotheken temporär ausgeliehen wurden. Einige Rollen waren Begleitrollen zur Verwendung mit einem Sänger oder Instrumentalisten. Notenrollen wurden zudem für andere Instrumente wie die Phonoliszt-Violina, eine Kombination von Violine und Klavier, Orgeln, Harmonien und Orchestrien eingesetzt.

In den 1920er-Jahren beschäftigten sich zahlreiche Komponisten mit selbstspielenden Klavieren. Paul Hindemith, Ernst Toch, Hans Haass, Nikolai Lopatnikoff und Igor Strawinsky schufen originäre Werke. Die Firma Pleyel in Paris rief die Collection des Compositeurs Associés ins Leben, die Bearbeitungen von Werken u.a. Artur Honeggers und Darius Milhauds durch die Komponisten selbst umfasste. Die Instrumente gaben wesentliche Anstöße für die Diskussion um die „Mechanisierung der Musik“ und für Aufführungen in Donaueschingen und Baden-Baden, vor allem in den Jahren von 1926 bis 1929.

Rechts: Etiketten von Rollen mit verschiedenem Repertoire.

Interpreten
Ein Who Is Who

Fast alle namhaften Pianisten/-innen und zahlreiche Komponisten/-innen nutzten die neuen Möglichkeiten und spielten Stücke für selbstspielende Klaviere ein. Zum Teil schlossen sie Exklusivverträge mit einzelnen Firmen und bezogen daraus einen nicht unerheblichen Teil ihrer Einkünfte. Die bei der Aufnahme entstehende sogenannte Mutterrolle wurde von spezialisierten Editoren bearbeitet, wobei Modifikationen und Korrekturen vorgenommen werden konnten, zum Teil nach Angaben der Pianisten/-innen. Bei Reproduktions- und Künstlerrollen gaben die Pianisten die Rollen durch ihre Signatur zur Vervielfältigung frei.

Die Rollen stellen heute wesentliche Quellen zur Interpretationsgeschichte dar. Für Gustav Mahler sind Notenrollen etwa die einzige Quelle, die Aufschluss über seine eigene Interpretation geben. Weitere Rollen dokumentieren das Spiel z.B. von Claude Debussy, Gabriel Fauré, Edvard Grieg, Max Reger, Camille Saint-Saëns, Alexander Skjrabin und Richard Strauss. Der älteste Pianist, der für Reproduktionsklaviere einspielte, war Carl Reinecke (1824-1910), die jüngsten waren Rudolf Serkin und Vladimir Horowitz, beide 1903 geboren. Es finden sich Aufnahmen von Schülern von Carl Czerny, Franz Liszt und Clara Schumann, Enkelschülern von Frédéric Chopin wie von Wilhelm Backhaus, Teresa Carreño, Wanda Landowska, Ignaz Paderewski, Sergej Rachmaninoff und Arthur Rubinstein. Zum Teil sind die Notenrollen überhaupt die einzigen erhaltenen Quellen, die das Spiel eines Pianisten dokumentieren.

Mit der Weiterentwicklung des Grammophons, der Verbesserung der Aufnahmetechniken und dem Aufkommen des Rundfunks ebbte das Interesse an selbstspielenden Klavieren Anfang der 1930er-Jahre ab. Zu einer Renaissance kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sich Komponisten wie György Ligeti und Conlon Nancarrow für das Instrument interessierten und Werke schufen, in denen sie besonders die außergewöhnlichen, über die menschlichen Fähigkeiten hinausgehenden Spielmöglichkeiten erprobten. Nancarrow widmete große Teile seines Werks dem selbstspielenden Klavier, als Kompositionsmaterial dienten ihm die Notenrollen selbst.

Links: Porträts von Michael von Zadora und Józef Zygmunt Szulc auf einer Rolle mit "Anitras dans" aus der Peer Gynt-Suite von Edvard Grieg (Hupfeld Phonola Solodant Nr. 14221) sowie von Margarete Isenberg auf einer Rolle mit der "Tarantelle" aus dem Album de danses populaires des différentes nations von Anton G. Rubinštejn (Hupfeld Phonola Solodant Nr. 16086).